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Buch

Unterrichtsmaterial über den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 von Jörg Berlin

Kapitel

10. Der Genozid in der offiziellen türkischen Version

Dokument 10.23

Hinweise für Lehrkräfte

Ausführliche Stellungnahme gegen von deutscher Presse übernommene Rechtfertigung der türk. Regierung wegen der Deportationen. Beweise für Vorwürfe gegen Armenier gibt es nicht. Einzelne Erhebungen von Armeniern resultierten aus Notwehrsituationen. Begrenzte Deportationen im Frontgebiet ließen sich rechtfertigen, nicht aber die Vertreibung aller. Regierung verwendet einzelne berechtigte Vorwürfe, um Armenier insgesamt, d. h. lästige Konkurrenten loszuwerden. Nimmt wirtschaftliche Nachteile für Volkswirtschaft in Kauf.

Quelle

Politisches Archiv des deutschen Auswärtigen Amts. Zitiert nach: Wolfgang & Sigrid Gust (Ed.), www.armenocide.net. A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. 1916-01-03-DE-001.






Eine Nachprüfung dieser Anklagen ist sehr schwer.

Aus einem Bericht des deutschen Vizekonsuls Hoffmann über die offizielle Rechtfertigung der „Armenierverschickung“ vom 8. Nov. 1915 an den Botschafter in Konstantinopel Wolff-Metternich


Ich bitte mir einige Bemerkungen dazu gestatten zu wollen:

1. Die politischen und militärischen Gründe, die für die Verschickung der Armenier geltend gemacht werden, sind bekannt. Dass in und bei Wan, also in der Kriegszone, die Armenier sich landesverräterisch auf die Seite des Feindes schlugen, durfte nach allem Vorausgegangenen nicht überraschen …. Bekanntlich hat auch ein Teil der Kurden den Feind unterstützt. Die Bedeutung und Tragweite der in Konstantinopel aufgedeckten Fäden einer angeblichen Verschwörung vermag ich nicht zu beurteilen. Sie scheinen auch nicht unmittelbar die Armenier Anatoliens bloßzustellen. Vielmehr wird deren Verschickung seitens der türkischen Regierung (Ausführliche Erklärung vom 4. Juni d.J. in der "Nordd. Allg. Ztg." vom 9. Juni) und gewisser deutscher Seite (so von dem Kaiserlichen Ministerresidenten Freiherrn Max von Oppenheim in seinem Bericht an das Auswärtige Amt vom 29. August d. J.) mit besonderer landesverräterischer Betätigung begründet.

Eine Nachprüfung dieser Anklagen ist aus naheliegenden Gründen sehr schwer. Immerhin ist der eine oder andere Punkt der Kontrolle zugänglich.

Ich greife die auf Alexandrette bezügliche Anklage heraus.

In der angezogenen ausführlichen Regierungs-Darstellung vom 4. Juni heißt es: "Andere Armenier wurden von den englischen Behörden von Cypern in die Umgebung von Alexandrette gebracht. Unter ihnen befinden sich Toros, Oglu, Agop, bei denen Papiere gefunden wurden, die unzweifelhaft den angestrebten verbrecherischen Zweck beweisen. Diese Leute haben unter anderm einige Züge zum Entgleisen gebracht. Andrerseits traten die Kommandanten der englisch-französischen Streitkräfte in Verbindung mit Armeniern der Gegend von Adana, Dörtjol, Jumurtalik, Alexandrette und andern Küstenorten und stachelten sie zum Aufruhr auf."

Der Kern von Wahrheit, der in dieser amtlichen Verlautbarung steckt - die mir erst jetzt zu Gesicht gekommen ist - ist der, dass ein Armenier (Torosoglu Agop), angeblich von dem englischen Kreuzer "Doris" bei Dörtjol an Land gesetzt, dort aufgegriffen und im Besitz von 40 angeblich englischen Pfunden befunden wurde. Alles Übrige ist Zutat. Weder waren mehrere Armenier beteiligt, noch wurden bei dem Genannten bloßstellende Papiere gefunden, noch haben Armenier Eisenbahnzüge zum Entgleisen gebracht; die einzige Entgleisung, die stattgefunden hat, ist vom Kreuzer "Doris" selbst besorgt worden. Endlich ist es unrichtig, dass irgendwelche sonstige Verbindungen zwischen Kommandanten feindlicher Kriegsschiffe (Landtruppen kommen nicht in Frage) und Armeniern an den genannten Orten der Bucht von Alexandrette bestanden haben. Was den erwähnten Spion Torosoglu Agop betrifft, so soll dieser vor dem Kriegsgericht Adana gestanden haben; worauf er gehängt wurde. Welchen Beweiswert indessen diese kriegsgerichtliche Feststellung hat, dafür diene die Tatsache, dass in demselben Verfahren der ehemalige Dragoman dieses Kaiserlichen Konsulats, Balit, als Mitschuldiger des Agop, angeblich von diesem beschuldigt, verhaftet, ohne weitere Beweise und ohne Gegenüberstellung zum Tode verurteilt und dem Gehängtwerden nur durch das Eingreifen der Kaiserlichen Vertretungen entgangen ist, bis er schließlich in Konstantinopel freigesprochen worden ist. Obwohl mir selbst in der Türkei kein frivoleres Gerichtsverfahren bekannt geworden ist, ist nach gewissen Anzeichen Fachri Pascha, der stellvertretende Kommandant der IV. Armee, der mit als die Seele des scharfen Vorgehens gegen die Armenier gilt, noch heute von der Schuld Balits überzeugt. In seinem oben angezogenen Berichte sagt Freiherr Max von Oppenheim: "Bei einer vorübergehenden feindlichen Landung, die zur Zerstörung der Bahnlinie von Alexandrette führte, waren zweifellos Spionen- und andere Dienste geleistet worden."

Ich habe diese Anklage noch nie, auch nicht von türkisch-muhammedanischer Seite gehört, obwohl mir der Fall in allen Einzelheiten bekannt ist. Auf Tatsachen kann sie jedenfalls trotz der angeblichen Zweifellosigkeit nicht gestützt werden, und die Wahrscheinlichkeit spricht gegen sie. Wenn ein englisches Kriegsschiff auf einer Reede, auf der englische Kriegsschiffe vor Kriegsausbruch Monate lang gelegen haben, nachts landet und 30 m vom Ufer ein paar Schienen losschraubt, sodass ein Nachtzug entgleist, so bedarf das Schiff dazu keiner armenischen Spione und Schlossergesellen. Die "reichen Geldmittel", von denen der Bericht als bei dem Spion (dem Torosoglu Agop) gefunden spricht, belaufen sich selbst nach türkischer Angabe auf 40 Pfund - wie schon gesagt angeblich englische - d.h. eine Summe, die in dem reichen Orte Dörtjol und der Landesgewohnheit, sein Vermögen im Gürtel zu tragen, nichts Auffälliges sein konnte. "Fäden einer militärisch gegliederten Verschwörung", von denen der Bericht weiter spricht, sind weder in Alexandrette noch in Dörtjol aufgedeckt worden.

In Alexandrette hat eine sehr gründliche Massenhaussuchung weder Waffen noch belastende Schriftstücke ergeben. In Dörtjol sind dem Vernehmen nach allerdings Waffen gefunden worden. Dies hat jedoch nichts Ueberraschendes, seitdem die Bewohner dieses Fleckens sich während des sogenannten Adana-Massakers im Jahre 1909 nur mit den Waffen der Abschlachtung durch die muhammedanischen Umwohner haben erwehren können.

Dies zur tatsächlichen Richtigstellung der gegen die Armenier erhobenen Anklagen, soweit sie den Umkreis meines Amtssitzes berühren und demnach von mir kontrolliert werden können. Daraus Schlüsse auf den Wert der übrigen Anklagen zu ziehen, wird Auffassungssache bleiben müssen.

Besondere Vorsicht dürfte sich jedenfalls, von Wan und seiner Zone abgesehen, gegenüber der Anklage "militärisch gegliederter Verschwörung" empfehlen. Gewisse örtliche Aufruhrbewegungen können zum Beweise einer solchen nicht verwertet werden. Dass beispielsweise der Aufruhr von Zeitun nicht einer solchen Verschwörung auf die Rechnung gesetzt werden kann, ergibt sich unzweifelhaft aus der Berichterstattung des Kaiserlichen Konsulats Aleppo.

Auch die Empörung der Bewohner von Fundadschak im August und der von Urfa im Oktober war wohl, wenn man will, "militärisch gegliedert", aber örtlich beschränkt und nicht als Ausfluss einer weiter angelegten Verschwörung, sondern an Ort und Stelle durch die Drohung der Verschickung gereift.

Die Erhebung der Armenier in der Gegend von Suedije (südlich Alexandrette) war selbst nach Schilderung von militärisch-türkischer Seite keine Verschwörung, sondern eine vom Augenblick geborene Erhebung, die nach türkischem Geständnis in erster Linie dem Ungeschick des Kaimakams von Ladakije bei Bekanntgabe des Verschickungsbefehls zu verdanken ist. Auch die Aufnahme der Aufrührer von Suedije durch französische Kriegsschiffe war keine von langer Hand vorbereitete Handlung. Dafür sprechen die Umstände und die Ansichten gut unterrichteter Türken.

Wie leicht derartige Tatbestände durch "unzweifelhafte Tatsachen" entstellt werden können, zeigt der Fall der Maschinengewehre von Urfa. Freiherr Max von Oppenheim behandelte nämlich mir gegenüber auf Grund eines Zeugnisses, das er als über jeden Zweifel erhaben ansah, die Benutzung von Maschinengewehren (russischen?) durch die aufständischen Armenier Urfas als erwiesen und folgerte daraus Fäden nach Wan und Russland. Graf Wolfskeel dagegen, der bei der Unterdrückung des Aufstands mitwirkte, verwies diese Maschinengewehre in das Reich der Fabel.

2. Etwas anderes ist es, wenn die Verschickung der Armenier mit der Befürchtung begründet wird, die Armenier könnten im Falle feindlicher Landung wie in Wan mit dem Feinde gemeinsame Sache machen. Diese Befürchtung ist zweifellos begründet, wenn sie auch nicht die Armenier allein trifft, sondern auch die andern christlichen Bevölkerungsteile der Türkei und selbst viele Muhammedaner, wie die Kurden der Bederhanpartei und gewisse bedeutende arabische Stämme des Iraks und Arabiens beweisen. Jedenfalls liegt aber auf der Hand, dass damit nur die Ausräumung der gefährdeten Striche, also vor allem der Gebiete an der Küste und längs der Etappenstraßen, nicht aber die Gesamtaustreibung der Armenier gerechtfertigt werden kann.

3. Man kommt der Wahrheit danach wohl am nächsten, wenn man, ohne den gegen die Armenier erhobenen Anklagen zu großes Gewicht beizulegen, annimmt, die türkische Regierung habe in dem Landesverrat der Armenier Wans einen willkommenen Anlass erblickt, um das ihr politisch und - vom muhammedanisch-türkischen Standpunkt aus - wirtschaftlich gleich lästige armenische Bevölkerungselement während der unwiederbringlich günstigen Gelegenheit des gegenwärtigen Krieges ein für alle Mal zur Bedeutungslosigkeit zu zerdrücken. (Ich bin mir bei dieser Bemerkung natürlich bewusst, der Kaiserlichen Botschaft nichts Neues zu sagen; ich setze sie hierher der Vollständigkeit halber).

4. … Wäre jeder Armenier, wie man gelegentlich von deutscher Seite zu hören und zu lesen bekommt, im Wesentlichen ein Wucherer und nichts weiter, so könnte natürlich von einem solchen Verluste für das Reich nicht die Rede sein. In Wirklichkeit sind Hunderttausende der erwerbsfähigen Armenier - deren Gesamtzahl auf türkischem Boden bekanntlich auf 2 Millionen geschätzt wird - fleißige und geschickte Handwerker und rührige, strebsame und unternehmende Ackerbauer. Letzteres wird von Beurteilern häufig übersehen. …

Nach dem was ich von türkischen Freunden höre, verkennt man auf türkischer Seite nicht den großen wirtschaftlichen Verlust durch Ausmerzung der Armenier und die Schwierigkeit ihrer Ersetzung durch Muhammedaner, hält aber einen allmählicheren und friedlicheren Weg für ungangbar, weil bei jedem friedlichen Wettbewerbe der wirtschaftlich … unausgebildete türkische Muhammedaner sehr bald wieder unter die Räder geriete. Meine türkischen Freunde hoffen daher, dass diese schwere Operation am Körper der türkischen Volkswirtschaft zu guter Letzt doch eine Gesundung des Reichs in muhammedanisch-türkischem Sinne herbeiführen werde.



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