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Buch

Unterrichtsmaterial über den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 von Jörg Berlin

Kapitel

01. Geplanter Tod durch Massaker, Krankheit, Hunger, Durst, Ertränken, Kälte

Dokument 1.07

Hinweise für Lehrkräfte

Von den Deportationszügen erreichen nach Durchquerung Kleinasiens nur ca. 10 Prozent Aleppo. Männer meist getötet. Übrige todeskrank, kaum noch fähig Speisen aufzunehmen, werden aber weitergetrieben. Zeitungen berichten hingegen von „neuen Wohnsitzen“. Schreckliche Meldungen aus vielen Orten. Trauerspiel der “Armenierausrottung“.

Quelle

Politisches Archiv des deutschen Auswärtigen Amts. Zitiert nach: Wolfgang & Sigrid Gust (Ed.), www.armenocide.net. A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. 1916-09-10-DE-001







Gegenüber der deutschen Realschule in Aleppo liegt ein Haufe.

Aus einem Bericht des deutschen Oberlehrers Dr. Niepage, der am 10. September 1916 dem Reichskanzler Bethmann Hollweg vorgelegt wurde


Von Transporten, die, als sie ihre Heimat in Hocharmenien verließen, gegen zwei- bis dreitausend Männer, Frauen und Kinder zählten, kommen hier im Süden nur noch drei- bis zweihundert an. Die Männer sind unterwegs erschlagen, die Frauen und Mädchen, mit Ausnahme der alten … und ganz kleinen, sind, nachdem sie von türkischen Soldaten und Offizieren gemissbraucht worden sind, in türkische und kurdische Dörfer verschleppt worden, wo sie den Islam annehmen müssen. Den Rest der Karawanen sucht man durch Hunger und Durst aufzureiben.

Selbst bei Flussübergängen lässt man die Verdurstenden nicht trinken. Als Nahrung streut man ihnen als Tagesration ein wenig Mehl auf die Hand, das sie begierig ablecken, und das nur die Wirkung hat, den Hungertod hinauszuzögern. Gegenüber der deutschen Realschule in Aleppo, in der wir als Lehrer unterrichten, liegt in einem der Chans als Rest solcher Transporte ein Haufe von etwa vierhundert ausgemergelter Gestalten, darunter etwa hundert Kinder (Knaben und Mädchen) von fünf bis sieben Jahren. Die meisten krank an Typhus und Dysenterie. Tritt man in den Hof, so hat man den Eindruck, in ein Irrenhaus zu kommen. Bringt man ihnen Nahrung, so bemerkt man, dass sie das Essen verlernt haben. Der durch monatelangen Hunger geschwächte Magen vermag keine Speise mehr aufzunehmen. Gibt man ihnen Brot, so legen sie es gleichgültig beiseite. Sie liegen still da und warten auf den Tod.

Und jene Unglücklichen, die man zu Tausenden durch die Stadt und die Nachbarschaft in die Wüste getrieben hat, fast nur noch Frauen und Kinder, was wird aus ihnen? Von Ort zu Ort werden sie weitergetrieben, bis aus den Tausenden Hunderte, bis aus den Hunderten kleine Häuflein übrig geblieben sind. Und auch dies Häuflein treibt man weiter, bis auch die letzten gestorben sind. Dann erst ist das Ziel der Wanderung, dann sind die „neuen, den Armeniern angewiesenen Wohnsitze“, wie Zeitungen sich ausdrücken, erreicht. …

Was wir hier in Aleppo mit eigenen Augen sahen, war ja nur die letzte Szene des großen Trauerspiels der Armenierausrottung, nur ein winziger Bruchteil des Schrecklichen, das sich gleichzeitig in den übrigen Provinzen der Türkei abspielte. Viel entsetzlichere Dinge berichteten die Ingenieure der Bagdadbahn, wenn sie von der Strecke heimkehrten oder deutsche Reisende, die auf ihrem Wege den Karawanen der Deportierten begegnet waren. Manche dieser Herren mochten tagelang nichts essen, so Entsetzliches hatten sie gesehen.


Abb. 10: Deportierte im Hof des Hauses gegenüber der deutschen Schule in Aleppo (Sept-Okt 1915)


Aus: www.aaainc.org Witness to the Armenian Genocide.



Abb. 11: Opfer von Hunger, Durst und Entbehrungen



Aus: www.genocide-museum.am. Collection Armin T. Wegner


Copyright © 2014 Dr. Jörg Berlin: www.armenocide.net A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. All rights reserved