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Kapitel | 
08. Reformvorschläge für Türkisch-Armenien vor 1914 |

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Autor | 
Jörg Berlin |

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8 . Reformvorschläge für Türkisch-Armenien vor 1914
Trotz vieler Probleme gestaltete sich die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Armenier im Osmanischen Reich nicht durchgängig als Katastrophe. Der Zeitabschnitt nach dem türkisch-russischen Krieg von 1828 stand im Zeichen staatlicher Reformbemühungen, die zunächst auf eine Stärkung der militärischen Macht des Reiches zielten, in deren Gefolge sich aber auch manche Rechte und Möglichkeiten für die christlichen Untertanen ergaben. Auf dem Papier erhielten die nicht-muslimischen Minderheiten sogar Selbstverwaltungsrechte, freie Religionsausübung, Zugang zu öffentlichen Ämtern sowie Gleichheit vor dem Gesetz und im Bereich der Steuerlasten zugesichert. 1863 erhielten die Armenier von der Regierung die „Armenische Nationalkonstitution“, in der Gremien, Rechte und Reichweite einer nicht geringen Selbstverwaltung festgehalten waren. Die Armenier verfügten nun durch einen gewählten Patriarchen gegenüber der Regierung und den ausländischen Botschaftern in Konstantinopel zumindest über ein legitimes Sprachrohr für ihre Klagen und Anliegen. Damit gestaltete sich ihre Situation in dieser Beziehung günstiger als die vieler Türken. Die Kontakte des Patriarchen und anderer Armenier mit den Vertretern ausländischer Großmächte und deren darauf folgende Unterstützung armenischer Initiativen hatten jedoch einen deutlichen Nachteil. Die Osmanen empfanden dies nicht ohne Grund als Beeinträchtigung ihrer Souveränität.
Nach der siegreichen Beendigung des russisch-türkischen Krieges [1877/78] konnte Russland seine - unter dem Vorwand lediglich dem Schutz der christlichen Armenier dienen zu wollen - angestrebten Ziele zwar nicht erreichen, aber im Berliner Vertrag von 1878 musste das Osmanische Reich den europäischen Großmächten Kontrollrechte in seinen „armenischen Provinzen“ einräumen. (Vgl. Dok. 8.2) Diese erzwungene Rücksichtnahme auf ausländische Staaten verletzte sicherlich den Stolz vieler Türken. In ähnlicher Weise provozierte die Gleichstellung der „Ungläubigen“ in der Verfassung die religiösen Gefühle islamisch-konservativer Kreise. Wichtiger als die Repressalien, die sich hieraus ergaben, waren im Alltag der Masse der Armenier die Viehdiebstähle, Beleidigungen und Vergewaltigungen, Landraub und die ungerechte Steuer- und Abgabenpraxis vor allem in den östlichen Provinzen. Diese Unsicherheiten im Alltag führten dazu, dass etwa ein Viertel der Armenier emigrierte.
Als die jungtürkischen Führer nach den territorialen Verlusten und der Vertreibung der Muslime auf dem Balkan 1912 sich in der folgenden Schwächeperiode wiederum bzw. weiterhin mit Initiativen von armenischer Seite für Reformen konfrontiert wurden, sahen sie hierin den Versuch, eine Abspaltung vorzubereiten. Sie meinten, die Armenier im Osten des Staates wollten nun wiederholen, was die Christen in Thrakien und Makedonien kurz zuvor mit ausländischer Unterstützung erfolgreich durchgeführt hatten. (Vgl. auch www.armenocide.net. 1913-11-27-DE-001.) Ähnlich wie auf dem Balkan würden die großen Siedlungsgebiete der Armenier in den Ostprovinzen (vgl. die Bevölkerungstabellen im Text) einen Vorwand bieten, diese irgendwann aus dem Osmanischen Reich herauszubrechen. Diesen Verdacht hegte auch der österreichische Botschafter in Konstantinopel. (Vgl. Dok. 8.19) Er meinte - wie wohl auch die Jungtürken - die Reformforderungen der Armenier wären mit dieser Absicht von der russischen Diplomatie suggeriert worden. (Vgl. Dok. 8.4 ) Auch unter Deutschen gab es Stimmen, die in den Forderungen von Reformen nur russische Annexionsabsichten sahen. (Vgl. Dok. 8.6) Tatsächlich waren die Reformwünsche jedoch Ergebnis langjähriger schlimmster Erfahrungen der Armenier. (Vgl. Dok. 8.3). Die armenischen Aktivisten forderten 1913 wie z. B. bereits ähnlich 1896 einen europäischen Verwaltungschef für die armenischen Provinzen, der bei der Bestellung aller Beamten mitwirken sollte, die Unterstellung der dortigen Polizei unter einen Europäer, eine Zusammensetzung der Polizei und der Behörden proportional zur Stärke der jeweiligen Bevölkerungsgruppen, eine Justizreform nach europäischem Vorbild, Freiheit der Presse, der Religionsausübung und der Erziehung, eine General- und eine Steueramnestie, die Verwendung von drei Vierteln der eingenommenen Steuern in der jeweiligen Provinz, Rückgabe von geraubtem Besitz, Rückkehrrecht für Vertriebene und Geflüchtete, die zeitweise Einsetzung einer europäischen Kontrollkommission zur Überwachung der Durchführung dieser Forderungen.
Der deutsche Botschafter erkannte in den aus dem Ausland unterstützten armenischen Reformbestrebungen potentiell ebenfalls Gefahren. Er berichtete jedoch nach Berlin, die große Masse der armenischen Bevölkerung strebe weder nach Unabhängigkeit, noch sei sie separatistisch gesonnen. Er betonte: „Der Armenier will ebenso wenig Russe werden, wie er sich Jahrhunderte lang gewehrt hat, Byzantiner, Araber, Perser oder Türke zu werden.“ (Vgl. www.armenocide.net. 1913-02-24-DE-001.)
Allerdings verlangten die Armenier
„1) Wirksame Garantien für die Sicherheit von Leben, Eigentum und Religion.
2) Anteil an der lokalen Verwaltung, entsprechend der Kopfzahl und dem Bildungsgrade des armenischen Elements.“
Diese Forderungen seien auch berechtigt. Deutschland solle helfen, sie zu erfüllen. (Vgl. Dok. 8.5) Auch die russischen Armenier, schrieb ein deutscher Diplomat, hätten kein Interesse daran, dass „Türkisch-Armenien unter russische Herrschaft käme.“ (Vgl. www.armenocide.net. 1913-09-26-DE-001.)
Tatsächlich kam es 1914 zu einer von den europäischen Großmächten einvernehmlich befürworteten Gestaltung eines Reformprojekts. Vertreter der Großmächte und des Osmanisches Reiches unterzeichneten ein Abkommen, dessen Bestimmungen eine realistische Chance für eine Verbesserung der Lebensbedingungen in Ostanatolien boten. Geplant war, zwei jeweils einem europäischen Generalinspekteur unterstellte Provinzen zu schaffen. Dieser sollte Beamte abberufen und einsetzen sowie innerhalb seines Dienstbereichs über das Militär verfügen. Auch für Gendarmerie, Verwaltung, Gerichte und Schulen waren Änderungen vorgesehen, die den Interessen der Armenier entgegenkamen.
Die jungtürkische Führung stimmte zwar zu. Der Historiker T. Akcam meint, dies sei nur gezwungenermaßen erfolgt. Nach dem Empfinden der Führer des jungtürkischen Komitees „Einheit und Fortschritt“ hätten die Armenier es in einer Periode äußerster Schwäche des Osmanischen Reiches nach den verlorenen Kriegen in Afrika und Europa seit 1912 verstanden, fremde Mächte zu einer erpresserischen Intervention anzustiften. Dieser Aktion würden weitere folgen. Es drohten die Abtrennung Türkisch-Armeniens vom Osmanischen Reich und ein Vormarsch Russlands. Aus diesem Grund wäre, so T. Akcam in seinem Werk „A shameful Act“, im genannten Komitee das Programm einer ethnischen Homogenisierung, d. h. einer Vertreibung der christlichen Bevölkerung, aus ihren Hauptsiedlungsgebieten, beschlossen worden. Dieses kam wegen aktueller Umstände zunächst gegen die griechische Bevölkerung an der Ägäis und der Küste des Schwarzen Meeres zur Anwendung. Radikalisiert durch Ereignisse während des Krieges und unter dem Vorwand kriegsbedingter Umsiedlungen kulminierte das gründlich überlegte und nur in ´verlässlichen´ Führungszirkeln diskutierte und beschlossene Programm im Völkermord an den Armeniern. |