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Kapitel

02. Ausplünderung und Beraubung



Autor

Jörg Berlin

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2. Ausplünderung und Beraubung

Armenier im Osmanischen Reich litten seit jeher unter Beraubung, Gewalttaten und Mord. Die Ereignisse der Jahre 1915/16 bildeten den Endpunkt einer langen Tragödie. Bei dieser staatlich initiierten und betriebenen Plünderung des Besitzes der Verfolgten und Ermordeten ging es in erster Linie nicht um eine unmittelbare Bereicherung der Täter. Die jungtürkische Führung verfolgte aus ideologischen Gründen die offen ausgesprochene (Vgl. Dok. 2.7 u. 2.8), politisch motivierte Absicht, die vorher zum großen Teil von Armeniern und Griechen kontrollierte Wirtschaft des Staates, in türkische Hände zu bringen. Die Wegnahme von Ländereien, Gehöften, Häusern, Geschäften, Handelsunternehmen, Fabriken, Vieh, Kirchen, Schulen, Geld, Kleidern, Hauseinrichtungen usw. bildete damit ein wesentliches Element des mit dem Völkermord angestrebten grundlegenden Ziels der „Osmanisierung“. Die insbesondere in der Kriegszeit nachteiligen Folgen für die Versorgung der Bevölkerung und der Truppen nahmen die politisch Verantwortlichen auch in Äußerungen gegenüber deutschen Diplomaten billigend in Kauf. (Vgl. Dok. 10.23) Diese beschwerten sich auch darüber, dass die von Armeniern bei deutschen Unternehmen aufgenommenen Kredite nicht beglichen werden konnten. (Zu einem Protestschreiben auch der österreichischen Botschaft siehe www.armenocide.net 1915-09-21-DE-002).

Die konsequente Vernichtungspolitik der Jungtürken erhielt durch die angestachelte Raublust einiger Bevölkerungsgruppen sicherlich eine zusätzliche Schubkraft. Infolge der antiarmenischen Propaganda enthemmt erschienen nach Bekanntwerden der Deportationsbefehle türkische Nachbarn in den Häusern und Wohnungen der Armenier, um für wenig oder gar kein Geld Kleidung, Möbel und Gebrauchsgegenstände zu ergattern. Einflussreiche Osmanen nutzten ihre Macht, um sich Geschäfte, Warenlager, Häuser und Grundstücke überschreiben zu lassen. Mancherorts war Armeniern verboten, irgend etwas zu verkaufen oder mitzunehmen. Der Staat ließ zudem ihre Bankkonten sperren. In einigen Städten wurden die vor oder nach der Vertreibung beschlagnahmten Güter in Lagern gestapelt – bis Diebe sie mit oder ohne Zustimmung der Wächter entwendeten. Während der Deportationen durchsuchten und bestahlen die Begleitmannschaften die wehrlosen Menschen immer wieder. Außerdem erpressten sie durch Drohungen, Folter und Vorenthalten von Wasser und Nahrung Geldbeträge, Kleidungsstücke und Wertgegenstände. Auch Kinder und Frauen wurden zu Tausenden geraubt und nicht selten weiterverkauft.

Die Deportierten litten buchstäblich von der ersten bis zur letzten Minute unter gewaltsamen Ausplünderungen. Ob diese auch zur Kriegsfinanzierung des Osmanischen Reiches dienen sollte, ist noch ungeklärt. Immerhin hielten Armenier in Kleinasien insgesamt über 10 Prozent des Volksvermögens in ihren Händen. In einigen Teilen des östlichen Kleinasiens betrug der Anteil wohl sogar mehr als 50 Prozent.

Die kollektive Enteignung der verfolgten Armenier bildete ein wichtiges Element der Auslöschung dieser Nation. Insbesondere deshalb erfordert die Beraubung neben der Vernichtung der intellektuellen Führungsschicht, den gnadenlosen todbringenden Deportationen, der Zwangsassimilation von Kindern und Frauen, der Vernichtung der nationalen Kunst- und Kulturschätze sowie der Religion nicht nur unter moralischen Aspekten besondere Beachtung. Bei den Enteignungen bzw. Plünderungen war die türkische Führung ähnlich wie bei den „Deportationen“ bemüht, das Geschehen durch einen legalen Rahmen zu verharmlosen. (Vgl. www.armenocide.net 1916-02-28-DE-001) In Erlassen wurde angekündigt, der Wert des Besitzes würde genau registriert, wertvolle Gegenstände kämen zur Aufbewahrung in spezielle Lagerhäuser, alle Wertsachen würden deponiert und die Enteigneten erhielten Gegenleistungen für ihr „ verlassenes Eigentum“. Die Verschleierungstaktik und das Vorgehen der Regierung wurden bereits Anfang Oktober 1915 in einer Sitzung des Parlaments von dem jungtürkischen Führers Ahmed Riza scharf kritisiert: Das entsprechende vorläufige Gesetz hätte dem Parlament nicht zur Diskussion und Abstimmung vorgelegen. (Vgl. www.armenocide.net 1915-11-01-DE-007) Vor allem aber gäben auch Kriegszeiten der Regierung nicht das Recht, Menschen ihr Eigentum wegzunehmen. Ein Ankauf der beschlagnahmten Ländereien und Häuser würde im Krieg ohnehin nur den Wohlhabenden möglich sein.

Nach dem Krieg verurteilten türkische Gerichte verantwortliche jungtürkische Führer wegen ihrer schamlosen Bereicherung und der in diesem Zusammenhang begangenen Untaten. (Vgl. Dok. 1.15)



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