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Kapitel

09. Über die Jungtürken und das Zentralkomitee „Einheit und Fortschritt“ (Ittahad ve Terakki“)



Autor

Jörg Berlin

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9. Über die Jungtürken und das Zentralkomitee „Einheit und Fortschritt“ (Ittahad ve Terakki“)

Die Organisation der so genannten „Jungtürken“ entwickelte sich seit 1870 im Osmanischen Reich. Wegen brutaler polizeilicher Unterdrückungsmaßnahmen und der Pressezensur konnte sie sich im Volk nur wenig ausbreiten, sondern blieb auf Offiziers- und Beamtenkreise sowie Angehörige der geistig beweglichen städtischen Mittelschichten beschränkt. Diese Männer traten nach europäischen Vorbildern für eine Verfassung, eine konstitutionelle Monarchie, die Beschränkung des ausländischen Einflusses und staatliche Förderung von Wirtschaft und Industrie ein. Die Ursachen für die innen- und außenpolitischen Probleme des Osmanischen Reiches, für die Kämpfe der Nationalitäten untereinander und die Abspaltungsversuche der Christen vor allem auf dem Balkan sahen die Jungtürken zunächst in der Unfähigkeit der absolutistischen Regierung des Sultans Abdul Hamid. (Vgl. Dok. 9.09)

Ein zentraler Punkt im jungtürkischen Rettungskonzept für das Osmanische Reich war zunächst die aufrichtige Einigung und Zusammenarbeit aller Nationalitäten und politischen Gruppen. So meinten sie, eine weitere Schwächung sowie neue an die Substanz gehende Gebietsverluste verhindern zu können. Mit ihrer Idee des „Osmanismus“ verbanden sie die Vorstellung und das Versprechen gleicher Rechte und Möglichkeiten für alle Bewohner des Osmanischen Reiches. Ein Trugschluss der Jungtürken bestand in ihrer Vorstellung, nach einer radikale Reformierung des Reiches , nach der Beendigung der Alleinherrschaft des Sultans würden sie ausländischen Interventionen und Unabhängigkeitsbestrebungen verschiedener im Osmanischen Reich lebender Nationen leicht begegnen können.

Bei den Vorbereitungen für eine Entmachtung des Sultans arbeiteten übrigens Jungtürken und armenische Organisationen eng zusammen. Auf einem Kongress in Paris 1907 verabredeten sie, folgende Mittel einzusetzen: Verweigerung von Steuerzahlung, bewaffneten Widerstand, allgemeinen Aufstand und Agitation in der Armee, damit diese nicht gegen Aufständische vorgehen würde. Die Jungtürken nahmen es den armenischen Organisationen demnach im Grunde nicht übel, dass diese im Juli 1905 durch ein Bombenattentat den Sultan hatten beseitigen wollen. (Ein Attentat von Jungtürken auf Abdul Hamid war im Jahr 1902 gescheitert.)

Die „Jungtürkische Revolution“ wurde 1908 durch den von Enver Bey geleiteten Aufstand der Garnison in Resna (Makedonien) ausgelöst. (Vgl. Dok. 9.08) Der Sultan musste die Verfassung von 1876 wieder in Kraft setzen. (Vgl. Dok. 9.01 und Dok. 9.02) Das Osmanische Reich wandelte sich in eine konstitutionelle Monarchie. Die Macht lag in den Händen des jungtürkischen Komitees (vgl. Dok. 9.3), das seine Versprechungen in Bezug auf die Verfassung, die Zulassung von Parteien und Zeitungen, Aufhebung der Zensur, Wahlen und politische Kundgebungen zu realisieren begann. Die christlichen Osmanen sollten nicht mehr durch den Rahmen des „millet“-Systems eingeengt sein, sondern ihre Interessen im gemeinsamen Parlament vertreten. Die Armenier in Ostanatolien ebenso wie die Griechen, Bulgaren, Serben, Montenegriner und Makedonier auf dem Balkan hatten allerdings in den vergangenen Jahrzehnten in einem solchem Umfang staatliche Ungerechtigkeit und Massaker erlebt, dass ihr Misstrauen nicht innerhalb weniger Jahre beseitigt werden konnte. Da die jungtürkischen Führer auf dem Balkan infolgedessen bald einsehen mussten, dass sie die dort im Osmanischen Reich lebenden verschiedenen Nationen nicht für ihre Auffassung von osmanischer Einheit gewinnen konnten, versuchten sie bereits 1909, ihr Ziel statt durch Überzeugung durch eine verschärfte Gesetzgebung zu erzwingen.

Pressezensur, Verbot nationaler politischer Vereine und nationaler bewaffneter Organisationen, Einschränkungen für politische Kundgebungen, Einführung des Türkischen im Schulunterricht der höheren Klassen und andere Maßnahmen verschlimmerten jedoch die Situation und schürten nicht nur unter Griechen und Armeniern die Sorge vor einer Zwangstürkisierung. Zusätzlich geschürt durch Auseinandersetzungen innerhalb der Jungtürken und Rivalitäten mit anderen politischen Gruppierungen entwickelte sich das neue osmanische Regierungssystem nach der Reform von 1908 schnell von einem ansatzweise pluralistischen System zur unkontrollierten Herrschaft der Führung des jungtürkischen Komitees für „Einheit und Fortschritt“.(In der Literatur oft abgekürzt „CUP“. Zum Herrschaftssystem und den leitenden Personen vgl. Dok. 9.7 und Dok. 9.8) Parallel dazu verlief ein ideologischer Wandel vom Osmanismus zum Türkismus, dessen Akzeptanz z. B. unter Offizieren auch durch die außenpolitischen Misserfolge und militärischen Niederlagen zu erklären ist. Der Annexion der damaligen osmanischen Provinzen Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn 1908 folgten die Unabhängigkeitserklärung des Fürstentums Bulgarien sowie die Vereinigung Kretas mit Griechenland. Das muslimische Albanien hatte 1910 rebelliert und erklärte sich 1912 für autonom. Italien besetzte in Nordafrika 1911 Tripolis und die Kyrenaika sowie 1912 Rhodos und weitere Inseln in der Ägäis.

Die Jungtürken, die verkündet hatten, durch ihre Revolution eine weitere Teilung des Reiches verhindern zu können, wurden nun ihrerseits für den Verlust wichtiger Provinzen verantwortlich gemacht. Bereits auf ihrem Parteikongress von 1910 in Saloniki proklamierten führende Jungtürken eine privilegierte Stellung der muslimischen Völker im Osmanischen Reich gegenüber den nicht-muslimischen Nationen. (Vgl. Dok. 9.04 , Dok. 9.05 und Dok. 9.06) Sie kritisierten, dass die Christen auf dem Balkan ihre Blicke Hilfe suchend auf Griechenland, Serbien sowie Bulgarien richteten und die Armenier in Ostanatolien auf die europäischen Mächte und insbesondere Russland hofften. Wer den Autonomiebestrebungen dieser Völker nachgebe, zerstöre das ´türkischen Haus´. Nach dem Balkankrieg 1912/13, der zum Verlust des größten Teils der europäischen Provinzen des Osmanischen Reiches führte, erkannten die Jungtürken, wie sie sich in ihren Erwartungen hinsichtlich Tragfähigkeit des von ihnen zuvor vertretenen „Osmanismus“ getäuscht hatten. Die von ihnen als Gegenmaßnahmen eingeleiteten Repressionen erreichten auch die arabischen Untertanen des Osmanischen Reiches. (Vgl. Dok. 9.11 und Dok. 9.12)

Im Hinblick auf jene Entscheidungen, die zum Völkermord führten ist festzuhalten, dass politische Entscheidungen der Jungtürken nicht nach öffentlichen Diskussionen fielen. Eine „Art von Direktorium aus 15-20 Mitgliedern“, nur die Führung des jungtürkischen Komitees für „Einheit und Fortschritt“ bestimmte das Regierungshandeln. (Vgl. Dok. 9.8) Nicht „die“ Türken oder „die“ Jungtürken, sondern vor allem von dieser Gruppe und insbesondere von deren Zentralfiguren Talaat Bey und Enver Pascha eingesetzte Beamte und weisunggebende Delegierte veranlassten in den Provinzen, die Umdeutung der Deportationsbefehle in Aufträge, die zur Auslöschung der Armenier führten. (Vgl. Dok. 9.10 und allgemein Kapitel 4.)



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