1915-09-06-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14087
Zentraljournal: 1915-A-27840
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 09/24/1915 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: BN. 824/KN. 17
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Vizekonsul in Alexandrette (Hoffmann) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



BN. 824 / KN. 17
Alexandrette, den 6. September 1915

Die Verschickung der hier lebenden Armenier wurde am 1. August d.J. angeordnet und heute beendet.

Im ganzen sind aus Alexandrette selbst etwa 1000 Seelen, etwa ebensoviel aus dem 10 km landeinwärts gelegenen Flecken Beilan und den nahen Gebirgsdörfern weggeschafft worden.

Die Wegschaffung hatte anfangs „sofort“ erfolgen sollen. Dem entsprechend wurde einem Teil der Armenier eine drei-, dem Rest eine achttägige Frist gegeben. Der Mangel an Beförderungsmitteln, das Ausbleiben von Unterstützungsgeldern und die Einsicht des hiesigen Kaimakams haben jedoch zu einer Verteilung der Verschickung auf etwa 5 Wochen geführt.

Als Beförderungsmittel dienten für den grösseren Teil der Verschickten einige wenige Wagen sowie Lastpferde und Esel, die von der muhammedanischen Bevölkerung requiriert wurden.

Die Armenier durften ihre bewegliche Habe veräussern, ihren Grundbesitz dagegen weder verkaufen noch verpachten noch vermieten. Bereits geerntete Feldfrüchte durften sie verkaufen, während die Nutzung der Frucht auf dem Halme behördlich zu Gunsten der Staatskasse verpachtet wurde. Augenscheinlich fingiert man regierungsseitig, dass die Verschickten an Ort und Stelle der Neuansiedlung gleichwertigen Ersatz für das Zurückgelassene erhalten.

Die Familien solcher Armenier, die zur Zeit Heeresdienst leisten, waren anfangs ausdrücklich von der Verschickung nicht ausgenommen. Später wurden sie es wenigstens in Alexandrette, nicht dagegen im Nachbarorte Beilan und den Gebirgsdörfern. Ihre Nichtausnahme wurde regierungsseitig mit der Angabe begründet, alle Armenier seien desertiert. Dies ist nicht nur schwer ausdenkbar, sondern auch tatsächlich unrichtig. Auch scheinen in den mir bekannt gewordenen Fällen von Desertion die Deserteure zu ihrer Pflichtwidrigkeit erst durch die Nachricht von der bevorstehenden Verschickung ihrer Angehörigen und durch eine Verweigerung des beantragten Heimaturlaubs bestimmt worden zu sein. Zum Teil sind solche Deserteure auch nach kurzem Aufenthalt bei ihrer Familie wieder zur Truppe zurückgekehrt. Diesem Tatbestande hat man in Alexandrette und Beilan denn auch durch milde Behandlung solcher Fälle Rechnung getragen. Man hat sich mehrfach sogar darauf beschränkt, die Deserteure kurzer Hand mit ihren Angehörigen zusammen zu verschicken.

Alles in allem haben die hiesigen Behörden, besondes der an der Spitze der Lokalregierung stehende Kaimakam Fatin Bey, es verstanden, die ihm gewordenen Befehle ohne Verletzung des ihnen zugrunde liegenden Staatsinteresses nach Möglichkeit milde auszuführen. Dass diese Möglichkeit gering war, war nicht Schuld der Lokalbehörden.

Ausnahmen von der Verschickung wurden nur ganz wenige gewährt. Zeitweise schien die Belassung der „katholischen Armenier“ (70 – 80 Seelen), dann auch der protestantischen (in Alexandrette 40 – 50, in und nahe Beilan etwas mehr) durch die Bemühungen des amerikanischen Konsulats in Aleppo und der amerikanischen Botschaft gesichert. Später wurde angeordnet, dass auch diese beiden Kategorieen die Küste zu räumen hätten; dagegen ist ihnen das Verbleiben im Innern an einem Orte ihrer eigenen Wahl gestattet.

Ziel der Verschickung ist angeblich Verpflanzung in die Hochebene südlich von Aleppo (Hama und Homs), die bis jetzt eine spärliche, muhammedanische, Araberbevölkerung haben. Wenn man sich der Gedankenlosigkeit und Ungeschicklichkeit erinnert, die die türkischen Behörden nach dem Balkankriege bei der Ansiedlung muhammedanischer Flüchtlinge gezeigt haben und die eine enorme Sterblichkeit unter vielen solcher Trupps zur Folge hatten, so darf man ohne weiteres annehmen – und die türkischen Beamten nehmen dies auch an – dass die Sterblichkeit unter den verschickten Armeniern, besonders unter den Gebirgsarmeniern, eine noch viel grössere sein wird. Ebenso kann ohne weiteres angenommen werden, dass seitens unserer Gegner der Schatten dieses Verfahrens auch auf unser Land geworfen werden wird. Von dieser unerfreulichen Nebenwirkung sei indessen hier nicht weiter die Rede.

Dagegen verdient hervorgehoben zu werden, dass grösser als der zweifelhafte Nutzen, den die Verschickung der hiesigen Küstenarmenier für das türkische Staatsinteresse haben dürfte, die wirtschaftliche Schädigung sein wird, die daraus für die hiesige Gegend erwächst.

Als Grund der Verschickung wurden die landesverräterischen Handlungen angegeben, deren sich die Armenier der Küste bei Ladakije und Kassab (wie früher der bei Dörtjol) schuldig und die Alexandrettes verdächtig gemacht hätten. Indessen darf als ausgeschlossen gelten, dass die hiesigen Armenier ihre türken- und deutschfeindlichen Gefühle tatsächlich in ernst zu nehmender Weise zum Schaden der Türkei betätigen können, wenn die Behörden auch nur einigermassen die Augen offen halten. Dagegen ist der gegen die hiesigen Gebirgsarmenier geltend gemachte Verdacht, sie versorgten die die Hänge des Amanusgebirges unsicher machenden Deserteure mit Unterhalt, sicherlich in gewissem Umfange begründet. Doch scheint die Gefährlichkeit dieser ganzen Deserteurfrage aufgebauscht.

Was auf der andern Seite die Gefährdung wirtschaftlicher Interessen anbelangt, so machte die armenische Bevölkerung Alexandrettes allerdings nur 1/6 bis 1/5 der Gesamteinwohnerzahl aus (normal: 10-12000). Dieser Bruchteil zeichnete sich aber durch Betriebsamkeit, Geschicklichkeit und Strebsamkeit aus, zum mindesten vor der „fellachischen“ (Nuseiri) und muhammedanisch-türkischen Bevölkerung, die die Mehrheit unter dem verbliebenen Rest ausmacht. Infolge der Armenierverschickung fehlen heute in Alexandrette die geschicktesten Handwerker. Die Stadt ist ohne Zahnarzt, ohne Uhrmacher. Die brauchbarsten unter den (allgemein minderwertigen) Aerzten, gewandtes kaufmännisches Personal, wichtige Kaufleute haben die Stadt verlassen. Gerade für einen Platz von der Kleinheit Alexandrettes (wie oben erwähnt, 10-12000 Einwohner, jetzt übrigens nur etwa 4000) bedeutet wegen der mit der Bagdadbahn zusammenhängenden grossen wirtschaftlichen Aufgaben, die demnächst an den Platz herantreten werden, der Wegfall eines wirtschaftlich so wertvollen, dabei akklimatisierten Bevölkerungsteils eine fühlbare wirtschaftliche Schädigung. Zwar wird die Inangriffnahme der erwähnten grossen wirtschaftlichen Aufgaben (Hafenbau, Entsumpfung, Herstellung der Bahnverbindung mit Aleppo und seinem grossen Hinterlande) viel Zuzug zur Füllung der jetzt entstandenen Lücken bringen, doch wird dieser Zuzug erhebliche Zeit brauchen, um sich dem hiesigen Fieberklima anzupassen (Henri Goy nennt Alexandrette in seinem 1907 erschienenen Werke „Essai sur l´Agriculture du Golfe d´A. 'plage meurtrière' “).

In die Güter der verschickten armenischen Bauern sollen muhammedanische Flüchtlinge eingewiesen werden. Dass sie an Fleiss mit ihren armenischen Vorgängern wetteifern werden, kann man nach den Erfahrungen, die in den letzten Jahren mit solchen Flüchtlingen gemacht worden sind, sehr bezweifeln. Auch in der Landwirtschaft der Gegend wird somit die Verschickung der Armenier nachteilig wirken.


Hoffmann



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